Die meisten Studien über Industrie 4.0 sind abstrakt gehalten, wie ein Screening von 67 Ausarbeitungen im Rahmen der State-of-the-Art-Analyse ergab. »Vorrangig befassen sich die Werke mit Chancen und Risiken, Datensicherheit oder Geschäftsmodellen. Technische Handlungsempfehlungen für den Mittelstand gehen daraus aber nicht hervor«, kritisiert Felix Müller, Projektleiter am Fraunhofer IPA. Hier liegt aber Bedarf vor, wie das aktuelle Stimmungsbild zeigt: »40 Prozent der Befragten haben angegeben, zwar von Industrie 4.0 gehört zu haben, aber noch keine Umsetzungsmaßnahmen durchzuführen. Dieser hohe Anteil legt nahe, dass sie Unterstützung benötigen«, meint Müller. Um den Firmen den systematischen Entwicklungsweg zu einer intelligenten, vernetzten Produktion aufzuzeigen, hat das Fraunhofer IPA die Studie aufgesetzt. Dabei sei Wert auf einen hohen Praxisbezug gelegt worden.
Als Methode diente eine zweistufige Delphi-Befragung. Dafür haben die Experten 200 Online-Fragebogen ausgewertet, die zuvor an ca. 5000 Fachleute aus der Industrie verteilt wurden. »Anschließend haben wir mit 30 erfahrenen Experten aus Industrie und Forschung unsere Interpretationen sowie mögliche Ursachen diskutiert«, informiert Müller. Auf diese Weise wollten die Experten die wichtigsten Bedarfe des Mittelstands in Sachen Industrie 4.0 herausarbeiten und aufeinander aufbauende Entwicklungsfelder generieren.
Die Auswertung ergab, dass der Mittelstand in der Inflexibilität seiner IT-Systeme die größte Schwierigkeit sieht, den neuen Marktanforderungen, wie z. B. einer stark steigenden Anzahl an Produktvarianten, gerecht zu werden. »Daraus lässt sich der Bedarf nach standardisierten Schnittstellen und Vernetzungsplattformen ableiten«, erläutert Müller. Weitere Hemmnisse seien die schlechte Planbarkeit, die unklaren Kundenanforderungen oder die unzureichend genutzte bzw. nicht integrierte Datenbasis der bestehenden Produktion. Die Befragung zeigte auch, dass mittelständische Unternehmen bei der Umsetzung von Industrie 4.0 noch unsicher sind. »Wir stellten fest, dass der Großteil der Firmen Produktions-IT-Systeme nach dem Trial-and-Error-Prinzip auswählt, anstatt eine Gesamtstrategie zu entwickeln oder Lebenszykluskosten zu bilanzieren«, informiert Müller.
Als Grundvoraussetzung zur intelligenten, vernetzten Produktion konnte die Digitalisierung des Wertschöpfungssystems identifiziert werden. »Erst, wenn alle relevanten Bestandsmaschinen an ein Informationssystem angebunden sind und eine durchgängige, echtzeitnahe Datenbasis erzeugt werden kann, können weitere Maßnahmen ergriffen werden«, weiß Müller. Darauf aufbauend ist das Unternehmen in der Lage, die Potenziale weiterer Entwicklungsfelder wie z. B. der automatisierten Fertigung personalisierter Produkte zu heben. Besonders die Entwicklung von Inline-Prozessqualitätsüberwachungssystemen ist hierbei ein Schlüsselbaustein. Gleichzeitig können Assistenzsysteme den Menschen unterstützen, ergonomisch optimal zu arbeiten und bessere Entscheidungen zu treffen. An oberster Stelle stehen der selbststeuernde Betrieb und die autonome Optimierung. Um den Mehrwert gerade für teilautomatisierte bzw. hybride Produktionssysteme für die variantenreiche Produktion zu erschließen, sind viele Schritte nötig. »Ziel ist, das Fertigungssystem so intelligent zu vernetzen, dass es anhand von Produktions- und Qualitätsdaten automatisiert Muster erkennt und sich fortlaufend selbst optimiert«, weiß Müller. Auch die Entwicklung autonomer Kooperations- und Koordinationssysteme von fahrerlosen Transportfahrzeugen sei ein Baustein auf dem Weg dorthin.
Jedes Entwicklungsfeld haben die Forscher zudem mit einem »Nutzentacho« versehen, der den Entwicklungsmehrwert für das Unternehmen anzeigt. Dieser sei bei der reinen Digitalisierung noch gering, in Verbindung mit personalisierten Produkten und Assistenzsystemen für den Menschen aber schon deutlich erkennbar, betont Müller.
Die Studienergebnisse verwenden die IPA-Forscher auch, um ihr Applikationszentrum Industrie 4.0 anwenderorientiert weiter auszugestalten. Schon heute steht hier eine Reihe an Demonstratoren, mit denen KMU den Nutzen von Industrie 4.0 für ihre eigene Produktion erleben können. Entsprechend der herausgearbeiteten Bedarfe sollen bis 2018 ca. 30 weitere Demonstratoren entwickelt werden, die die vier Entwicklungsfelder mit Leben füllen und Anknüpfungspunkte für gemeinsame Projekte mit mittelständischen Unternehmen bieten. Dazu zählt z. B. EasyCalc, ein Service zur Produktkostenkalkulation für die Stückzahl eins, oder Easy2sense, ein Sensornetz zur einfachen Nachrüstung und Konfiguration für bestehende Maschinen und Anlagen.
Die Studie umfasst 76 Seiten und kann hier kostenlos angefordert werden.